Geeks unter seinen Freunden zu haben, bedeutet nicht nur mit denen verrückte Computerbasteleien zu machen, Brettspiele zu zocken, Science-Fiction-Serien zu schauen und sich mit allerlei nerdigem Technikkram auszukennen. Viele Geeks sind auch überraschend musikalisch und kennen verrückte Komponisten und Projekte. In die Kategorie fällt zweifelsohne Organ²/ASLSP, doch von vorn:
Der 1992 verstorbene Komponist John Cage ließ 1985 mit Hilfe eines Computerprogramms zufällig ein Werk für Piano generieren, dem er als Tempoangabe die Anweisung gab, es so langsam wie möglich zu spielen1. Die Orgelbearbeitung aus dem Jahr 1987 wurde 1989 uraufgeführt – in einer Zeit von 29 Minuten. Doch 29 Minuten waren den Teilnehmern eines Orgelsymposiums im Jahr 1997 nicht genug und so entstand die Idee das Stück noch viel langsamer zu spielen. Seit 2001 findet eine auf 639 Jahre angelegte Aufführung auf einer eigens dafür gebauten Orgel in der Sankt-Burchardi-Kirche in Halberstadt statt. Bei einer so langen Zeit, sind die Tonwechsel besondere Ereignisse, weil sie nur selten auftreten. In diesem Jahr war am 5. August die Zeit reif für den elften Tonwechsel. An einem schönen Sommertag machte ich mich also zusammen mit zweien meiner besten Freunde auf nach Halberstadt – dieses Spektakel wollten wir uns nicht entgehen lassen.
Das Projekt hat über die Jahre einige Unterstützer und Fans gewonnen und an jenem Freitag war nicht nur der Tonwechsel allein zu hören, sondern geplant war außerdem ein Vortrag, eine Pressekonferenz und noch ein Konzert. Wir kamen ungefähr eine halbe Stunde vor dem Vortrag an und schauten uns zunächst mal in der beinahe leeren alten Kirche um:
Neben der Orgel und dem nötigen Windwerk gibt es eigentlich nichts weiter in der Kirche, kein Chorgestühl, keinen Altar, keinen Wandschmuck oder ähnliches. Jedoch zieht sich in etwa 1,20 m Höhe über dem Boden eine Reihe von Eisentafeln an der gesamten Innenwand der ehemaligen Kirche entlang. Für eine Spende an das Projekt ab 1000 € kann man sich sozusagen ein Jahr kaufen und dann seine Tafel bekommen – falls noch jemand ein exklusives Geburtstagsgeschenk sucht … 😉
Zu 16:00 Uhr war dann ein Vortrag angekündigt. Was uns inhaltlich erwartete, wussten wir nicht, aber es war durchaus unterhaltsam, für uns nur nicht ganz auf die Weise, wie sich der vortragende Musikwissenschaftler das gedacht hatte. Der hatte nämlich im Gesamtwerk von Bach alle Takte gezählt und wollte dann Zusammenhänge zwischen bestimmten Zahlen, einem gewissen Psalm aus der Bibel und der Musik Bachs selbst herausgefunden haben. Wenn man nur genügend viele Daten hat, kann man alles mögliche darin finden, sich aber in dem ernst gemeinten Vortrag zurückzuhalten und nur leise zu kichern statt laut loszulachen, war echt schwer!
Das Konzert um 18:00 Uhr dann war wesentlich angenehmer. Wir waren leider ein wenig spät dran, nachdem wir in der Stadt noch was gegessen hatten, und mussten auf dem Boden sitzen, lauschten dann aber sehr gespannt jeweils sieben Stücken von Bach und Cage, abwechselnd vorgetragen. Mag der Herr Professor sich in seiner Forschung ein wenig verrannt haben, ein guter Musiker ist er jedoch und das machte es auch zu einem guten Konzert.
Gegen 20:00 Uhr hatten sich vor der kleinen, alten Kirche bereits überraschend viele Leute versammelt. Nach ein paar einführenden Worten2 wurden die Menschen dann rein gelassen und versammelten sich um die Orgel. Das Schweigen vor den zwei Tonwechseln (ein hoher Ton war zu Ende, ein tiefer kam hinzu) war beinahe andächtig und auch nach dem Wechsel hielten die Menschen inne und lauschtem zunächst dem neuen Klang, bevor es nach etwa einer Minute einen kurzen Applaus gab und dann alle wieder ihrer Wege gingen.
Mit zwei frisch erworbenen Partituren3 dieses ganz speziellen Orgelwerkes im Gepäck machten wir uns dann auch wieder auf den Heimweg. Wir werden es nicht auf die 639 Jahre schaffen, aber die Erinnerung an ein sehr besonderes Erlebnis wird bleiben. 🙂
- as slow as possible, daher die Abkürzung ASLSP [↩]
- Die einführende Rede als mp4-Video (53MB) zum Direktdownload. Tonqualität ist lausig, aber es gibt noch ein paar interessante Hintergrundinformationen [↩]
- Wer sich die Rede nicht angesehen hat: die Verkaufseinnahmen gehen komplett als Spende an das Projekt. [↩]
Schade, daß ich an dem Tag selbst unterwegs war, sonst wär ich gerne mitgekommen.
Aber gutes Video, hat man doch nen Eindruck 🙂
Ist mir eine Ehre, zu deinen Geekfreunden zu gehören O:-) .
Pingback: Kein-Kelvin-Kommentar-Kichern | LeSpocky.de :: Blog